Typisch deutsch: das Prinzip Vielfalt
„Was ist typisch deutsch?“, lautet eine häufig gestellte Frage. Meine Antwort: unsere Vielfalt! Das ist schon historisch so gewachsen: Unserer föderalen Geschichte haben wir es zu verdanken, dass hier viel mehr kulturelle, wirtschaftliche und religiöse Zentren entstanden als anderswo. Heute haben wir starke Bundesländer, starke regionale Identitäten, ein Nebeneinander ganz unterschiedlicher Traditionen – und damit gute Voraussetzungen, auch neue kulturelle Einflüsse aufzunehmen und einzubauen.
Damit aber 'Zusammenhalt in Vielfalt‘ gelingt, braucht es mehrere Faktoren.
Gemeinsames Wertefundament
Zentrale Voraussetzung ist ein gemeinsames Verständnis von Grundwerten, die uns über alle Meinungsverschiedenheiten in Alltag oder Politik hinweg verbinden. Auch deshalb engagiere ich mich als Präsidentin für eine stärkere Verankerung unseres wunderbaren Grundgesetzes in der Bildung und in öffentlichen Debatten, ob über die Wertsachen-Diskussionsreihe oder in Zusammenarbeit mit der Landeszentrale für politische Bildung an unseren Schulen. Denn ich bin der Überzeugung: Wir sollten bereits im Unterricht vermitteln, dass wir als Gesellschaft eine Wertegemeinschaft sind – und uns trotzdem über politische Fragen streiten können.
Begegnungsorte
Die zweite essentielle Voraussetzung ist aus meiner Sicht, dass wir als Gesellschaft im Austausch bleiben. Dafür brauchen wir Orte und Strukturen, die Begegnung ermöglichen. Sei es ein öffentlicher Raum, in dem man gerne verweilt, intakte Dorfkerne, Stadtquartiere mit gemeinsamen Anlaufstellen für unterschiedliche Zielgruppen oder ein lebendiges Vereinsleben.
All das stärkt den Austausch, den Gemeinsinn, ja, die Toleranz in ihrem ursprünglichen Sinne: den Mut aufzubringen, Unterschiede und Andersheit zu akzeptieren. Diesen Mut brauchen wir als Gesellschaft. Denn suchten wir Zusammenhalt in abgekapselten, homogenen Gruppen, zerfiele unsere Gesellschaft in auseinanderdriftende Einzelmilieus – mit dem Ergebnis, dass sich alle misstrauisch beäugen und die einen die anderen als Bedrohung empfinden: So landen wir beim ‚Wir gegen die‘, dem Credo der Populisten. Das zu verhindern, indem wir diese Begegnungsorte schaffen und erhalten, darin liegt der Auftrag an uns Politiker*innen.
Darüber habe ich auch mit dem Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Klaus Boehnke und Hörerinnen und Hörern von Deutschlandfunk Kultur diskutiert:
Von der Wirtschaft lernen
Vielfalt bedeutet also, sich auf Neues einzulassen, auf andere Menschen, die andere Erfahrungen gemacht haben, anders ticken und anders sprechen. Wir können dabei von der Wirtschaft lernen. Unternehmen mit gemischten Teams (Ältere / Jüngere, Frauen / Männer, Menschen mit unterschiedlicher Herkunft, Religion, sexueller und geschlechtlicher Identität) machen nachweislich mehr Gewinn.
Der Gewinn der Gesellschaft lässt sich zwar nicht in Geld messen, aber in mehr Zusammenhalt und auch in mehr Gerechtigkeit, wenn wir Vielfalt im Sinne gleicher Chancen der Teilhabe begreifen. Diese Teilhabe am Gemeinwesen allen zu ermöglichen ist der dritte zentrale Faktor – und einer, der lange vernachlässigt wurde. Was meine ich damit?
Zuwanderung und Anerkennungskultur
Deutschland ist faktisch längst ein Einwanderungsland. Doch hat es die Politik auf Bundesebene leider Jahrzehnte lang versäumt, sich dazu zu bekennen. Das Ergebnis:
Auf der einen Seite hat die Zuwanderung unsere Kultur und unseren Alltag in vielem längst verändert und bereichert – durch ihre Küche, ihre Musik, ihre Kultur. Das Pastagericht in der Kantine, den Tango im Tanzkurs oder die Weltmusik auf dem Stadtfest begreifen wir heute nicht mehr als fremd, sondern als selbstverständlichen Teil unserer Lebenswelt.
Auf der anderen Seite fehlt es gleichzeitig an einer Anerkennungskultur:
Wir sind zurecht stolz auf Spitzenprodukte made in Germany. Doch die weltbesten Autos und Maschinen sind sehr oft auch made by Jugoslaw*innen, Italiener*innen, Griech*innen, Türk*innen.
Sie alle haben den Erfolg Deutschlands als führende Industrienation Europas mit-ermöglicht. Auch das sollte Teil unserer kollektiven Erzählung sein. Und sich auch in gleichen Chancen in der gesellschaftlichen und politischen Teilhabe widerspiegeln. Das ist nicht unbedingt bequem, aber die gerechte Grundlage, auf der eine vielfältige Gesellschaft funktioniert.
Das Tischgespräch
Der deutsche Soziologe Aladin El-Mafaalani hat dafür in seinem Buch ‚Das Integrationsparadox‘ das sehr passende Bild eines Tischgesprächs gefunden: Wenn an einem Tisch mehr Gruppen als zuvor Platz nehmen, dann wird dieses Tischgespräch oft länger dauern. Wir sitzen dann mit mehr Menschen zusammen, die nicht nur auch ein Stück vom Kuchen haben wollen. Sie wollen auch mitauswählen und -bestellen. Oder sie wollen gleich die Tischregeln neugestalten, die sich etabliert haben, bevor sie dabei waren.
Wie ich meinen eigenen Integrationsprozess erlebt habe und welche Lehren ich daraus ziehe habe ich in einem Interview im Stadtpalais Stuttgart erzählt:
Das wird teilweise auf Widerstand derjenigen stoßen, für die die bisherigen Regeln von Vorteil waren und die sie bisher nicht hinterfragen mussten. Das Zusammenwachsen zu einer neuen, größeren Tischgesellschaft funktioniert nicht ohne Wachstumsschmerzen.
Dieses Tischgespräch so zu moderieren, dass das Geschirr heil bleibt, wird daher manchmal sehr anstrengend sein. Aber es lohnt sich. Denn wer mit am Tisch sitzt, wird sein Gemeinwesen als Heimat empfinden. Und wer sich mit seinem Gemeinwesen identifiziert, wird sich eher und intensiver engagieren – haupt- wie ehrenamtlich.
Gelebte Vielfalt ist daher nicht nur nice to have, sondern stärkt den Zusammenhalt und verbreitert das Fundament, auf dem unsere Demokratie fußt.
Dafür lohnt es sich zu arbeiten.