Wer bin ich und was ist mein Antrieb, Politik zu machen? Woher komme ich und welchen Weg bin ich gegangen? Was hat mich dabei geprägt? Und wie sieht mein Leben heute aus – als Stuttgarterin, Abgeordnete, Präsidentin?
Ankommen und aufgenommen werden
Rund 2.700 Kilometer liegen zwischen meinem Geburtsort und Stuttgart.Ich war gerade zwölf Jahre alt, als wir mit meinen Eltern und Geschwistern nach Filderstadt zogen. Aufgewachsen war ich in einem kleinen Dorf namens Elmaağaç in Ostanatolien; mit viel Natur und Platz zum Spielen, aber ohne Elektrizität und fließendes Wasser.
Mit meiner Familie in Sielmingen auf den Fildern.Ich weiß noch genau, dass wir an einem Augusttag 1978 spätnachts in Stuttgart ankamen. Eine meiner ersten Erinnerungen: wie ich mit meinen beiden Brüdern bei uns im Garten stand und staunend die Frauen zählte, die selbst am Steuer eines Autos saßen. Für mich bis dahin unvorstellbar!
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Ankommen und Aufgenommenwerden in einer neuen Heimat, das passiert nicht von selbst. Doch ich hatte doppelt Glück: einerseits wegen der Offenheit meiner Eltern für die deutsche Gesellschaft. Andererseits, weil wir auf eine Gesellschaft trafen, die ihrerseits offen war und zugewandt.
Meine Eltern ermöglichten uns alles, was wir für das Einfinden und Weiterkommen in der Gesellschaft benötigten. Und sie ermutigten mich auch: Deutsch zu lernen, deutsche Freunde zu finden, zum Tanzkurs zu gehen, bei Freunden zu übernachten. Für diese Offenheit wurden sie in der türkisch-kurdischen Community oft kritisiert – doch sind stark geblieben. Dafür bin ich ihnen bis heute dankbar.
Wir hatten das Glück, Menschen um uns zu haben, die uns mit Respekt – statt mit Vorurteilen – begegneten. Die Neugierde zeigten, statt Angst vor dem Fremden.
Da war die Bauernfamilie Mack, die am Ende des Dorfes lebte und uns behandelte wie ihre eigenen Kinder. Eine junge engagierte Lehrerin, die mich sehr unterstützte. Die anderen Kinder, die mich einfach in die Klassengemeinschaft aufnahmen, obwohl ich anfangs kein Wort Deutsch sprach.
Wir durchliefen quasi ein Integrationsprogramm, das getragen war von Zuwendung, von einer ganz selbstverständlichen Willkommenskultur. Das hat nicht nur praktisch Vieles erleichtert. Es hat auch den Weg dahin bereitet, dass ich Deutschland als Heimat empfand, mich zugehörig fühlte, mich schließlich auch engagieren wollte!
Politisierung und Parteieintritt
Lichterkette gegen Fremdenfeinde 1992 in Berlin. (Quelle: dpa)Anfang der 1990er Jahre erschütterten fremdenfeindliche Gewalttaten das Land. Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln, Solingen: die rassistischen Angriffe auf Geflüchtete und Migrant*innen schockierten mich. Die Werte, die mir so wichtig geworden waren – das Zugewandte, Offene, Vielfältige – schienen plötzlich in Gefahr. Zunächst hatte ich Angst, ging abends nicht mehr raus. Doch dann wurde mir rasch klar, dass es das nicht sein konnte.
Dieses Land war auch meine Heimat geworden – das wollte ich mir von Rechtsextremen nicht kaputt machen lassen.
Ich begann, mich politisch zu engagieren. Mit meinen Einstellungen zu Gleichberechtigung, Grundwerten und Umweltschutz fühlte ich mich bei den Grünen am besten aufgehoben.
Seitdem streite ich in verschiedenen Ämtern und Funktionen für die Themen, die mich umtreiben. Das sind häufig große Fragen – wenn es etwa um Grundwerte und Gleichberechtigung geht, um Demokratie und Teilhabe oder den Zusammenhalt in einer vielfältigen Gesellschaft. Doch sie spiegeln sich in ganz konkreten Situationen unseres täglichen Zusammenlebens.
Studium, Beruf und Politik
Im bürgerlichen Beruf: Steuerberaterin. (© Lena Lux)Nach dem Abitur an der Cotta-Schule studierte ich Wirtschaftswissenschaften in Hohenheim. Ich wusste früh, dass ich nicht vor der Entscheidung stehen wollte: Familie oder Karriere. Ich wollte beides – deshalb machte ich mich selbstständig. Ich absolvierte die Steuerberater-Prüfung und gründete meine eigene Kanzlei – mit heute zwölf Mitarbeiter*innen. Außerdem bin ich Mitglied des Vorstands beim Bundesverband Nachhaltige Wirtschaft e.V. - dem Netzwerk für zukunftsfähiges, klimagerechtes Wirtschaften.
Mit Werner Wölfle im Stuttgarter Gemeinderat.1999 wurde ich das erste Mal in den Stuttgarter Gemeinderat gewählt und kümmerte mich als Kommunalpolitikerin um grüne Themen in der Stadt, von 2007 bis 2011 auch als eine der beiden Fraktionsvorsitzenden der Grünen im Stadtrat.
Frisch gewählt und voller Freude im Landtag.Seit 2011 vertrete ich meinen Wahlkreis Stuttgart I (Grüne Stuttgart) – die Stuttgarter Innenstadtbezirke – im Landtag von Baden-Württemberg. In meiner ersten Legislaturperiode arbeitete ich als finanzpolitische Sprecherin meiner Fraktion und Mitglied im Bildungsausschuss daran, grüne Projekte umzusetzen.
Die Glocke - Symbol des Amtes als Präsidentin. (Quelle: dpa)2016 gelang es mir, mein Direktmandat zu verteidigen und das – was mich besonders gefreut hat – sogar als landesweite Stimmenkönigin. Am 11. Mai 2016 wurde ich von den Abgeordneten zur Präsidentin des Landtags von BW gewählt – als erste Frau, als erste Grüne und als erste Frau aus einer Zuwandererfamilie in diesem hohen Staatsamt.
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Wahlabend mit Andreas Schwarz und Sandra Detzer. (© Lena Lux)Am 14. März 2021 fand in Baden-Württemberg die Landtagswahl statt. In Stuttgart konnten wir unser Ziel erreichen und alle vier Direktmandate gewinnen. Dass ich mit 44,8 Prozent der Stimmen erneut das landesweit beste Ergebnis erzielen konnte – und die AfD in meinem Wahlkreis mit nur 3,3 Prozent ihr Schlechtestes bekam – freut mich besonders: Stuttgart hat abermals gezeigt, was für eine weltoffene, vielfältige Stadt wir sind.
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Meine Familie und ich
Für mich das Wichtigste: Meine Familie (© Lena Lux)Natürlich wäre das alles ohne die Hilfe und Unterstützung meiner Familie nicht möglich gewesen. Man ist ja auf seinem Weg nie alleine unterwegs, sondern wird ermutigt, entlastet und bestärkt.
Schaue ich zurück, bin ich meinen Eltern unendlich dankbar. Sie wollten immer, dass ihre Kinder in Deutschland ihren Weg gehen können – und haben alles dafür getan, uns das auch zu ermöglichen. Schweren Herzens verlegten sie damals sogar ihren Wohnsitz von Neuhausen auf den Fildern nach Stuttgart – um mich dabei zu unterstützen, beruflich und politisch aktiv zu sein.
Auch meinem Mann Sami Aras bin ich wahnsinnig dankbar; seit unserer Hochzeit 1986 – also seit über dreißig Jahren – gehen wir gemeinsam unseren Weg, halten uns gegenseitig den Rücken frei, leben und arbeiten hier in Stuttgart – wo wir gemeinsam mit unseren beiden Kindern unseren Lebensmittelpunkt haben.
Hier habe ich meine Freunde, hier fühle ich mich wohl. Und hier bin ich Fan 😏:
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Wer noch mehr über mich erfahren möchte, dem empfehle ich einen Blick in den Beitrag Kultur neu entdecken bei SWR 2: