Lörrach, 21. September 2019
Sehr geehrter Herr Lutz,
herzlichen Dank Ihnen für die freundliche Begrüßung.
Ich freue mich, heute hier in Lörrach zu sein.
Sehr geehrte Damen und Herren, und heute, an diesem Tag zu Ehren der Demokratie, ergänze ich:
Liebe Demokraten – und ganz besonders auch: Liebe Demokratinnen,
Wir konnten es eben beobachten: Auf dem Weg zur Demokratie haben Frauen eine entscheidende Rolle gespielt. Das kurze Spektakel hat (auf jeden Fall) wunderschön gezeigt, dass es sich immer lohnt, einen zweiten Blick auf das zu werfen, was uns präsentiert wird.
Das gilt für die Geschichte ganz allgemein. Das gilt besonders für die Geschichte der Demokratie.
Am Anfang stand die Revolution.
– So erinnern wir den Beginn der Demokratiebewegungen im 19 Jahrhundert.
Vor unserem inneren Auge sehen wir – auf den ersten Blick – Freiheitskämpfer mit wehenden Fahnen und geballten Fäusten, wir sehen Revolutionäre mit erhobenen Waffen, nach der Einheit Deutschlands rufen.
Wir sehen Friedrich Hecker, Gustav Struve oder Georg Herwegh. Ihre Namen kennen wir aus dem Geschichtsunterricht oder vom Tag der Demokratie in Lörrach.
Was wir nicht sehen, sind – in der Regel – die Frauen.
Frauen zum Beispiel, die Fahnen nähten für ihre Männer in den Bürgerwehren. Frauen, die diese Fahnen bestickten mit anspornenden Losungsworten wie „Einigkeit“, „Freiheit“, „Ehre“ oder „Heldenmut“. In unseren Ohren klingt das heute vielleicht fast ein wenig lächerlich, aber damals war Fahnensticken eine revolutionäre Tätigkeit – und nicht ungefährlich!
Die Demokratin Henriette Obermüller bestickte während der Revolution eine rote Fahne mit der Botschaft „Siegen oder Tod“. – Und saß dafür nach der Revolution eineinhalb Jahre im Gefängnis!
Im Frühjahr 1848 lobte der Revolutionär Friedrich Hecker deshalb auch die badischen Frauen. In seiner Schrift „Zur Erhebung des Volkes in Baden für die deutsche Republik“ verkündete er:
„Die Frauen und Mädchen zeigten sich mutiger und begeisterter als die Männer.“
Allerdings: Schon wenige Jahre später ließ seine Euphorie nach. Im Exil war er mit der amerikanischen Frauenbewegung konfrontiert, und änderte seine Meinung:
„Nur demjenigen, der in den Krieg zieht, sind Entscheidungsbefugnisse über staatliche Politik, sind die Bürgerrechte zu gewähren.“
Das schloss die Frauen ganz klar aus. Den zweiten Blick – den wir beim Spektakel vorhin auf die Perspektive und den Einsatz der Frauen werfen konnten, diesen zweiten Blick wollte Hecker nicht. Und damit war er nicht allein. Im Gegenteil. Er reihte sich ein in eine lange Tradition.
Viele vor ihm, viele nach ihm erzählten den Kampf um Demokratie als reine Männergeschichte, übersahen ganz einfach den Beitrag der Frauen. Der Zeitgeist damals zeigt sich besonders deutlich an den drei Revolutionen auf dem Weg zur Demokratie:
Die erste Revolution vor 230 Jahren: Bei der Französischen Revolution kämpften Männer und Frauen Seite an Seite für Demokratie, für das Versprechen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.
Eingelöst hat sich das Versprechen nur für die Männer. Brüderlichkeit wurde wörtlich genommen. Gleichheit hingegen nicht.
Die zweite Revolution vor 170 Jahren: Die Märzrevolution. In Deutschland forderten die Revolutionäre Demokratie und Einheit für Deutschland. Männer wie Frauen. Beide unterstützen die Revolution Mit dem Ergebnis: An der deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche verwies man die Frauen auf die Damengalerie. Passives Zuhören erlaubt. Aktive Mitsprache verboten.
Die erste demokratische Wahl in Baden am 3. Juni 1849 blieb Männern vorbehalten. Und: Nachdem die Revolution scheiterte, wurde es für die Frauen sogar noch schwerer. Sie verloren das Recht sich in Vereinen zu versammeln und das Recht zu publizieren.
Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen, wird diese Zeit, Mitte des 19 Jahrhunderts, als der Beginn der organisierten deutschen Frauenbewegung betrachtet.
Und dann schließlich die dritte Revolution vor 100 Jahren: Die Novemberrevolution am Ende des Ersten Weltkrieges. Der Kaiser verkündete in seiner Osterbotschaft eine Wahlrechtsreform für die Zeit nach dem Krieg – das Wahlrecht sollte WIEDER nicht für Frauen gelten.
Die Frauen wehrten sich WIEDER – noch vehementer, noch geschlossener – Bürgerliche und sozialistische, radikale und gemäßigte Frauengruppen arbeiteten zusammen, sprachen mit einer Stimme und: setzten sich durch!
1918 errangen die Frauen in Deutschland ihren Sieg, für den sie fast 100 Jahre gekämpft hatten: Das Recht zu wählen. Und das Recht gewählt zu werden.
Januar 1919 fanden die ersten Wahlen statt. Die Badenerinnen und Badener waren übrigens schneller als alle anderen. Dort wählte man schon am 5. Januar 1919. Die Württembergerinnen und Württemberger wählten am 12. Januar. Und auf nationaler Ebene mussten sich die Frauen bis zum 19. Januar gedulden.
Die Demokratie löste damit endlich ihr Versprechen der Gleichheit ein: aus unmündigen Frauen wurden mündige Bürgerinnen. Der politischen Gleichberechtigung von Frauen und Männern stand damit nichts mehr im Wege.
Und heute?
Ich frage mich manchmal:
Was würden diese mutigen Frauen aus der Vergangenheit, unsere Vorkämpferinnen, sagen, wenn sie heute 2019 einen Blick auf die politische Landschaft werfen könnten.
Wären sie zufrieden? Oder überrascht? Wären sie schockiert? Oder gar enttäuscht?
Nehmen wir Louise Otto-Peters. Sie gilt als die Mutter der deutschen Frauenbewegung. An der Märzrevolution 1848 gab sie die erste „Frauen-Zeitung“ heraus. Später gründete sie den ersten Frauenverein. Eine ihrer bekanntesten Forderungen lautete: „Die Teilnahme der Frau an den Interessen des Staates ist nicht allein ein Recht, sie ist eine Pflicht der Frauen“.
Sie sprach in diesem Sinn sowohl zu den herrschenden Männern als auch zu den beherrschten Frauen. Von den Männern forderte sie: Frauen mitentscheiden zu lassen, bei den Gesetzen, die sie betrafen. Frauen eine Stimme zu geben, bei der Wahl der Volksvertreter.
Von den Frauen forderte sie sich zu vereinigen und für ihre Mitbestimmung zu kämpfen. Louise-Otto-Peters wäre sicher sehr zufrieden damit, dass heute so viele Frauen sichtbar an den „Interessen des Staates teilnehmen“ und ihre „Pflicht“ erfüllen.
2019 haben wir auf europäischer Ebene erstmalig eine weibliche EU-Kommissionspräsidentin. Unser Land regiert seit 14 Jahren eine Bundeskanzler-IN. Im Kabinett der Bundesregierung sitzen 7 Frauen und 9 Männer – ein Frauenanteil von 44%. Im Kabinett der Landesregierung immerhin Frauen und 7 Männer – ohne Staatsrätin Erler.
Und auch meine Wahl zur ersten Landtagspräsidentin in der Geschichte Baden-Württembergs würde Louise Otto-Peters sicher zufrieden stimmen – auf den ersten Blick… Auf den zweiten Blick – wenn sie in unsere Parlamente schauen würde – wäre sie wahrscheinlich überrascht und womöglich sogar schockiert.
Mit der letzten Bundestagswahl ist der Frauenanteil im Deutschen Bundestag gesunken – auf einen Stand von vor 20 Jahren. Was die politische Repräsentanz von Frauen angeht gehen wir nicht vorwärts. Wir rollen zurück! Und je weiter man die föderalen Stufen nach unten steigt, desto weniger Frauen sieht man.
Das gilt für die Mandate, und das gilt besonders für die Führungspositionen. Im Landtag von Baden-Württemberg sitzen nur 26,6% weibliche Abgeordnete. Und das ist – in der Geschichte des Landtags – schon viel. Bis 1988 bestand der Landtag von Baden-Württemberg zu über 90% aus Männern. Mehr als 20% Frauenanteil haben wir erst seit 2001. Ähnlich sieht es bei den Stadt- und Gemeinderäten aus. 26,8% Frauenanteil. Lousie Otto-Peters fände 2019 sogar immer noch Gemeinderäte, in denen keine einzige Frau sitzt. In Baden-Württemberg sind es immerhin noch 22 Gemeinden ohne gewählte Frauen. Unter den 1000 hauptamtlichen Bürgermeistern im Land würde Louise Otto-Peters nur 80 Frauen antreffen – 8%. Und schließlich: Die Zahl der Frauen an der Spitze in den Landkreisen könnte die Mutter der deutschen Frauenbewegung auch 2019 mit 3 Fingern abzählen. In 35 Landkreisen gibt es – sage und schreibe – nur 3 Landrätinnen.
Meine Damen und Herren, ich bin sicher, Louise Otto-Peters würde die Ärmel hochkrempeln und weiterkämpfen für die Teilhabe der Frauen an den Interessen des Staates. Die Frage ist: Was machen WIR?
Unsere Parlamente sollen Spiegel der Gesellschaft sein. In unseren Parlamenten entscheiden wir, wie die Gesellschaft aussehen soll, in der wir leben. Mit jeder Debatte, mit jedem Gesetz, mit jeder Verordnung formen wir unsere Lebensrealität, unsere Freiheit und unsere Beschränkungen.
Aber der Blick in den Parlaments-Spiegel ist verzerrt. Die Perspektive der Frauen fehlt.
Politische Parität – also ein Gleichgewicht zwischen Männern und Frauen in unseren Parlamenten – ist seit 100 Jahren möglich.
Wirklichkeit ist politische Parität noch nie geworden – weder auf Bundes, noch auf Landesebene. Für einen fairen Ausgleich zwischen den Geschlechtern in der Politik und in der Gesellschaft brauchen wir eine politische Kultur, die politische Parität fest im Blick hat, brauchen wir politische Instrumente. Brauchen wir Bürgerinnen und Bürger, die unsere Demokratie als Recht UND als Pflicht für sich erkennen. Brauchen wir Männer und Frauen, die sich trauen, diese Plicht auch wahrzunehmen. Brauchen wir Mut, Entschlossenheit und vielleicht auch ein bisschen Kämpferinnengeist.
So wie Louise Otto-Peters. So wie all die Demokratinnen und Demokraten aus der Vergangenheit.
Und noch etwas brauchen wir: Wir brauchen einen zweiten Blick, auf die sogenannten Nebenbühnen der Geschichte, auf die Errungenschaften der Frauen für die Demokratie.
Denn – und hier spreche ich mit Gerda Lerner, einer Professorin für Geschichte und Pionierin der Frauengeschichtsforschung: „Jede Frau ändert sich, wenn sie erkennt, dass sie eine Geschichte hat“. Übrigens auch jeder Mann.
Ich wünsche Ihnen allen einen inspirierenden Tag der Demokratie, gute Gespräche und einen aufschlussreichen zweiten Blick!