Brackenheim, 24. September 2018
Sehr geehrter Herr Bürgermeister Kieser,
herzlichen Dank für die Einladung und die freundliche Begrüßung.
Ganz herzlichen Dank an den Musikverein Brackenheim – wir singen ja nachher gemeinsam die Nationalhymne.
Ich habe erst vor wenigen Tagen kräftig geübt. Und zwar bei der Einbürgerungsfeier in Stuttgart. Frisch gebackene Deutsche und Gäste singen zum Abschluss dieser Feier die Nationalhymne. Das ist für mich immer ein ergreifender Moment.
Festakte, Feiern: Das könnte auch das Motto dieses Jahres, des Jahres 2018 sein: Seit 100 Jahren haben Frauen das Wahlrecht. Seitdem gilt die Demokratie, die Mitbestimmung für alle Bürgerinnen und Bürger.
Und vor wenigen Wochen haben wir in Karlsruhe den 200-jährigen Geburtstag der badischen Verfassung gefeiert. Sie war für ihre Zeit ungewöhnlich liberal. Sie legte den Pfad für nachfolgende Verfassungen bis hin zu unserem Grundgesetz. Dieses Grundgesetz haben seine Mütter und Väter in diesen Tagen vor 70 Jahren im Parlamentarischen Rat erarbeitet. Der Brackenheimer Sohn Theodor Heuss war einer von ihnen.
Am 23. Mai haben wir im Landtag den 69. Geburtstag des GG mit rund 600 Bürgerinnen und Bürgern erstmals groß gefeiert. Im nächsten Jahr werden wir den runden, den 70. Geburtstag des GG würdevoll feiern.
Im nächsten Jahr jährt sich auch der Fall der Mauer zum 30. Mal. Ein Stück der Mauer steht als Erinnerung auch vor dem Bürger- und Medienzentrum des Landtags. Es gibt also gerade viele Anlässe zum freudigen Rückblick. Und auch beim Mauerfall könnten wir es so handhaben wie zum 10. oder dem 20. Jahrestag:
Wir könnten darauf zurückblicken, was wir bereits geschafft haben. Wir könnten die Wiedervereinigung als die Erfolgsgeschichte feiern, die sie zweifellos ist.
Die nackten Zahlen sprechen dazu eine eindeutige Sprache: Das wiedervereinigte Deutschland ist ein erstarktes Land. In so gut wie allen Bereichen stehen wir besser da als je zuvor: Nie seit der Wiedervereinigung waren in Deutschland so viele Menschen in Arbeit wie heute. Nie lag die Zahl der Straftaten so niedrig wie aktuell. Nie hat ein Wirtschaftsaufschwung so lange angehalten wie die aktuelle Hochphase.
Wenn ich an meine Kinder denke – meine Tochter studiert in Freiburg Jura, mein Sohn geht in die Oberstufe dann sehe ich: Noch nie hatten junge Menschen diese Fülle an Möglichkeiten. Der europäische Einigungsprozess hat ihnen in Sachen Bildung und Arbeit Türen geöffnet, die für meine Generation – und sicher auch für viele von Ihnen noch verschlossen waren.
Zum Feiern gibt es also viele und gute Gründe.
Meine Damen und Herren, wenn man jedoch aktuell in die klassischen Medien oder ins weltweite Netz schaut, dann scheint die vorherrschende Grundstimmung stärker von Unsicherheit als von Zuversicht geprägt zu sein.
Ein Credo von Theodor Heuss hat es deshalb momentan schwer in der öffentlichen Debatte. Ich zitiere: „Der einzige Mist, auf dem nichts wächst, ist der Pessimist.“
Diese Grundstimmung von Unsicherheit merkt man auch an Terminen, die eigentlich als Feierstunden gedacht sind. Dem Tag der Deutschen Einheit zum Beispiel.
An dieser Stelle danke ich Ihnen, lieber Bürgermeister Kieser ganz herzlich, dass Sie Ihre Feierstande zum Tag der Deutschen Einheit, auf heute vorverlegt haben, weil ich am 3. Oktober am Festakt in Berlin teilnehme. 2012 hat das Land Baden-Württemberg die zentrale Feier zum Tag der deutschen Einheit ausgerichtet.
Es war eine tolle Stimmung, es war fröhlich, aber auch informativ. Kurzum in Stuttgart herrschte am Tag der Deutschen Einheit Volksfeststimmung. In den nachfolgenden Jahren hat sich der Charakter dieser Feiern stark gewandelt.
Ich kann das am deutlichsten am Festakt 2016 in Dresden festmachen. Rund um den zentralen Ort – der Frauenkirche – gab es Kundgebungen aus dem Pegida-Umfeld. Die Stimmung, die ich wahrgenommen habe, war richtiggehend hasserfüllt. Als wir uns den Weg durch die Menge gebahnt haben, war ich froh, meinen Mann bei mir zu haben. Kurzum: Statt Volksfeststimmung habe ich Wut und Aggressivität erlebt. Ein Jahr später, letztes Jahr in Mainz war die Stimmung rund um den Veranstaltungsort zwar deutlich entspannter. Der Tenor der Ansprachen war aber nicht minder ernst.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagte in Mainz, ich zitiere:
„Es sind andere Mauern entstanden, weniger sichtbare, ohne Stacheldraht und Todesstreifen – aber Mauern, die unserem gemeinsamen "Wir" im Wege stehen. Ich meine die Mauern zwischen unseren Lebenswelten.“
Meine Damen und Herren, diese Sätze spiegeln eine Verunsicherung in der Gesellschaft:
Meinen wir eigentlich alle noch das gleiche, wenn wir von Heimat, wenn wir von Deutschland sprechen? Was ist die Basis unserer Gesellschaft? Was sind unsere Grundwerte? Die Antworten dazu scheinen nicht mehr für alle auf der Hand zu liegen.
Woher kommen diese Fragen? Welche Gründe gibt es für diese Zweifel? Welche Antworten können wir darauf im gesellschaftlichen Gespräch finden?
Dazu möchte ich etwas ausholen. Ich möchte Sie dazu ins Wendejahr 1989 führen. Ich war damals Studentin der Wirtschaftswissenschaften an der Uni Hohenheim. Ich saß – wie sicher viele von Ihnen auch – gebannt vor dem Fernseher. Und konnte das, was ich sah – die Bilder von den Montagsdemonstrationen und schließlich dem Mauerfall – fast nicht glauben.
Welches Bild hatte ich bis dahin von der DDR, von Ostberlin?
Mein Bild war geprägt von einem Ost-Berlin-Besuch mit meiner Schulklasse. Sie kennen alle die damaligen Kontrollen am Grenzübergang. Ich war besonders nervös, weil ich ein die Jugendzeitschrift „Bravo“ einschmuggeln wollte. Das ist gelungen, aber ich hatte Angst und die ganze Atmosphäre war beklemmend. Und in diesem Berlin tanzten die Menschen plötzlich befreit auf den Straßen. Mich hat das elektrisiert. Ich war damals noch in keiner Partei, aber politisch aktiv. In Stuttgart gab es zu der Zeit eine Initiative „EinwandererInnen ins Rathaus“ in der ich mich engagierte. Ich fand die Bürgerbewegung in der DDR gerade auch aus dieser Perspektive besonders interessant.
Die Themen der Bürgerrechtler in Ostdeutschland waren auch unsere Themen als Einwanderer-Initiative: Wie verschafft man Menschen Gehör, die bisher von politischen Entscheidungen weitgehend ausgeschlossen waren? Wie öffnet man Türen, wie motiviert man die Menschen, sich zu engagieren? Wie schafft man es, sichtbar zu werden und die eigene Perspektive ins gesellschaftliche Gespräch einzubringen? Als Vertreterin dieser EinwanderInneninitiative habe ich unmittelbar nach dem Fall der Mauer 1989 Kongresse von Bürgerrechtlern in Dresden und in Ostberlin besucht. Dabei hatte ich sehr viele Begegnungen – auch außerhalb der Kongresse. Wir haben ja auch privat übernachtet – aber kaum geschlafen, weil es so viel Stoff zum Reden gab.
Mir wurde schnell klar: Wir haben nicht nur die gleichen Themen, wir ticken auch gleich. Ich habe mich diesen Menschen nahe gefühlt. Ich habe den gleichen Anspruch, die gleiche Hoffnung gespürt:
Und zwar: Dass wir anerkannter und selbstverständlicher Teil der Gemeinschaft werden, dass wir eine neue Heimat finden, und vor allem: dass wir dieses Land, unser Land mitgestalten können.
Umso mehr hat mich ein Interview hellhörig gemacht, dass die Berliner Professorin Naika Foroutan kürzlich der Zeitung „taz“ gegeben hat. Die Überschrift des Interviews: „Ostdeutsche sind auch Migranten“. Das klingt zunächst irritierend. Wenn man nach der plakativen Überschrift das ganze Interview liest, wird jedoch schnell klar, dass es nicht etwa um eine Gleichsetzung geht.
Wiedervereinigung und Zuwanderung sind völlig unterschiedliche Dinge.
Aber: Unter der Oberfläche ähneln doch viele Erfahrungen, die Ostdeutsche machen, den Erfahrungen von Migranten in diesem Land. Dazu gehört vor allem das Gefühl, Bürgerin, Bürger zweiter Klasse zu sein: Die Erfahrung, aufgrund der Herkunft mit Vorurteilen konfrontiert zu sein. Die Erfahrung, sich für seine Herkunft rechtfertigen zu müssen. Zu den Gemeinsamkeiten von Ostdeutschen und Migranten gehört, wenn man das weiterdenkt, zudem auch der Verlust der ersten Heimat: Migranten haben ihr Land verlassen, Ostdeutsche wurden von ihrem Land verlassen.
Das setzt ähnliche Prozesse in Gang: Nach schwierigen Umbrüchen erscheint das Vergangene in der Erinnerung schöner als es tatsächlich war. Ich finde den Vergleich auch deshalb so spannend, weil offenbar sowohl der Umgang mit der Wiedervereinigung wie auch der Umgang mit Zugewanderten die gleiche Frage an die Mehrheitsgesellschaft aufwirft.
Diese Frage lautet: Wie gehen wir mit Vielfalt in unserer Gesellschaft um.
Nicht nur die Wiedervereinigung, sondern auch die Zuwanderung in den 60er, 70er Jahren hat unser Land verändert. Die sich vergleichsweise homogen fühlende Gesellschaft der Bundesrepublik der 70er und 80er gibt es so schon lange nicht mehr. Das lässt sich an Zahlen festmachen:
Menschen mit Migrationshintergrund und Menschen aus den neuen Bundesländern bilden etwa zwei gleich große Gruppen. Sie machen 2018 zusammen rund 40 Prozent der Bevölkerung in Deutschland aus. 40 Prozent der Bevölkerung, die sich in ihrer Identität, ihren Prägungen, ihren Erfahrungen von den anderen 60 Prozent der Bevölkerung unterscheiden.
Meine Damen und Herren, was gibt uns allen nun Heimat – und zwar: eine gemeinsame Heimat?
Sie alle kennen den berühmten Satz von Willy Brandt. Ich zitiere:
„Nun wächst zusammen, was zusammengehört.“
Zusammenwachsen heißt nichts anderes als Integration. Zusammenwachsen heißt aber auch, dass etwas Neues entsteht. Das gilt für die Wiedervereinigung mit den Menschen in den neuen Bundesländern. Das gilt aber genauso für das Zusammenleben mit Menschen, die nach Deutschland eingewandert sind. Das bedeutet einen tiefgreifenden Wandel. Das bedeutet Reibung und Konflikte. Das bedeutet aber auch Erfolg in einer Welt, die immer vernetzter wird und damit den Umgang mit Vielfalt als Kernkompetenz voraussetzt.
Die britische Wirtschaftszeitschrift „Economist“ – die uns 2003 „den kranken Mann Europas“ genannt hat – hat auf einem aktuellen Titel das ostdeutsche Ampelmännchen gedruckt und den Begriff „Cool Germany“ geprägt. Unser Land sei „vielfältiger, offener, lockerer“ geworden. Ein Einwanderungsland, das seine neue Rolle als Global Player in Europa und der Welt wahrnehme. Ökonomisch betrachtet kann man dem zustimmen.
Vom Selbstverständnis und Lebensgefühl her haben wir Deutschen da aber sicher noch Nachholbedarf. Was hilft uns auf diesem Weg? Uns allen, die wir in diesem wunderbaren Land leben und es miteinander nach vorne bringen wollen? Welche Denkfigur lässt sich heranziehen?
In den 90er Jahren tauchte zum ersten Mal der Begriff „Leitkultur“ auf. Mir gefällt dieser Begriff nicht. Das liegt vor allem an den Assoziationen, die er nach vielen unseligen Debatten hervorruft. Ich möchte daher die Gelegenheit nutzen, um an die Entstehungsgeschichte dieses Begriffs zu erinnern.
Diese Idee wurde nicht in Bonner Parteizentralen für Wahlkampagnen erdacht. Nein. Überspitzt könnte man vielmehr sagen: Sie hat ihre Wurzeln in Syrien. Der in Aleppo geborene Göttinger Politikwissenschaftler Bassam Tibi plädierte für einen Wertekonsens - als Klammer zwischen der Mehrheit und den Minderheiten einer Gesellschaft und - unabhängig von Religion, Ethnie, Vorprägungen oder Ursprungskultur der Menschen in diesem Gemeinwesen. Das Idealbild einer solchen funktionierenden Vielfalt entspricht einem 'Mosaik': Eine Komposition aus Steinchen verschiedener Farbe und Form. Zusammengehalten durch einen Zement-Untergrund und einen Rahmen.
Jeder kann seine Religion ausüben, jeder kann seine Traditionen pflegen, sein oder ihr kulturelles Erbe. Die sozusagen überwölbende Gemeinschaft erträgt lebendige Untergemeinschaften – solange sich die Vielfalt in der Einheit bewährt. Aus vielen verschiedenen Elementen ergibt sich ein gemeinsames, schönes Bild. Den Zement bilden Grundwerte, die für alle verbindlich sind: Sie entspringen der kulturellen Moderne und sind explizit europäisch gemeint und gedacht: Demokratie, Pluralismus, Religionsfreiheit. Eine tolerante und – deshalb lebendige – Zivilgesellschaft.
Meine Damen und Herren, darauf fußt unsere gemeinsame Identität. Nicht mehr die Herkunft macht den vollwertigen Staatsbürger, die vollwertige Staatsbürgerin aus – sondern der Glaube an unsere Grundwerte – und die Bereitschaft, sich für sie einzusetzen. Diese Idee ignoriert nicht, dass Menschen unterschiedlich sind, unterschiedliche Lebenserfahrungen haben.
Wer im real existierenden Sozialismus aufgewachsen ist, wer dessen Kollaps erlebt hat, hat einen anderen Zugang zur sozialen Marktwirtschaft und parlamentarischer Demokratie als Menschen ohne solche Brüche.
Genauso muss jemand aus einem anderen Sprach- und Kulturraum eine stärkere Lernleistung erbringen, als jemand, der hier aufgewachsen ist. Wenn wir uns von der Vorstellung lösen, dass Zugehörigkeit vor allem über die Herkunft definiert wird, wenn wir stattdessen Staatsbürgerschaft als Ergebnis eines gemeinsamen Wertekanons betrachten, dann ist das eine Einladung: Jeder hat die Chance, gleichwertiges Mitglied der Gesellschaft zu sein. Es kommt nicht darauf an, wo du oder deine Vorfahren herkommen, sondern darauf, wo du hinwillst.
Das ist das Credo. Und es sagt aus, dass wir alle die Aufgabe haben, im gesellschaftlichen Gespräch immer wieder neu auszuhandeln, was unsere Grundwerte im Hier und Jetzt bedeuten. Es geht bei Leitkultur also gerade nicht um Alltagsnormen. Die waren vor 50 Jahren ganz andere als heute und in 50 Jahren werden sie sicher wieder andere sein. Es geht um die Haltung, mit der wir das gesellschaftliche Gespräch über Werte und Normen führen. Und es geht auch darum, wie wir es schaffen, alle an diesem Gespräch teilhaben zu lassen.
Dafür haben wir wunderbares Leitbild: unser Grundgesetz. Deshalb werbe ich als Landtagspräsidentin auch so dafür, dass wir unsere Verfassung in den Schulen stärker thematisieren und die Verfassung allgemein viel stärker im öffentlichen Bewusstsein verankern. Liebe Gäste,
wir müssen ja nicht gleich so weit gehen, wie der Journalist Heribert Prantl, der Verfassungen einmal mit Liebesbriefen an ein Volk verglichen hat. Aber wir sollten uns schon fragen, was die Prinzipien des Grundgesetzes uns persönlich zu sagen haben, was sie mit unserem Leben, mit unserer Gesellschaft zu tun haben. Ich bin sicher: Viele von Ihnen werden zu dem gleichen Schluss kommen wie ich: Das Grundgesetz ist auf Vielfalt angelegt und bietet gleichzeitig einen festen Sockel gemeinsamer Werte.
Die Vielfalt des Grundgesetzes führt eben nicht zu einer Zerfaserung und einem „Jeder macht, was er will“. Der Geist des Grundgesetzes ist der des gegenseitigen Respekts. Im Kern vermittelt es die Werte: Offenheit, Gleichberechtigung, Gemeinsinn, Verantwortung, Freiheit und streitbare Demokratie.
Und Toleranz in seiner ursprünglichen Definition. Nämlich den Mut aufzubringen, Unterschiede zu akzeptieren. Diese Verfassung bietet uns ein festes Gerüst. Sie bietet die Basis für das gesellschaftliche Gespräch, wie wir unsere Grundwerte in einer sich ständig und rasch ändernden Welt leben. Wir können deshalb die Leistung von Theodor Heuss und seiner Kolleginnen und Kollegen im Parlamentarischen Rat gar nicht hoch genug schätzen. 1949 war die Wiedervereinigung weit weg, auch das Wirtschaftswunder und die Zuwanderung von Arbeitskräften waren so nicht absehbar. Das Credo der Vielfalt, die sich in der Einheit gemeinsamer Werte bewährt, gibt uns gerade auch heute die richtige Haltung, um die Herausforderungen in Deutschland anzugehen. Meine Damen und Herren, dieses Credo ist nicht vom Himmel gefallen. Vielfalt hat in Deutschland eine sehr lange Tradition. Als Landtagspräsidentin ist mir das noch mal besonders bewusst geworden. Zu Fronleichnam etwa hatte ich die Ehre, am Bluttritt in Weingarten als Ehrengast teilzunehmen. Tausende Reiter und Musiker ziehen dabei durch die Stadt und empfangen den Segen einer Reliquie, die das Blut Jesu Christi enthalten soll. Am Abend vorher gibt es eine große Lichterprozession, die die ganze Stadt im Kerzenschein erleuchtet. Die Gruppen ziehen am Tag der Prozession in traditionellen, teils seit Generationen weitergebenen Trachten durch die Stadt und über die Felder. Immer wieder hält der Zug an Wegekreuzen zur Andacht. Ein sehr barockes, sehr oberschwäbisches Erlebnis. Für mich war das eine ganz neue Erfahrung – obwohl ich mich recht viel in kirchlichen Kreisen bewege. Nicht mal zweieinhalb Autostunden von Stuttgart wartete eine unbekannte Welt. Das hat nicht nur mich überrascht. Weingarten gehört zur Diözese von Bischof Gebhard Fürst. Bischof Fürst stammt nicht weit von hier, aus Bietigheim. Zum Blutritt ließ er sich einmal zitieren: „In Stuttgart wäre so etwas nicht möglich“. Als Kind der nüchternen Diaspora war ihm dieses pompöse, barocke Schauspiel erst einmal fremd. Er hatte allerdings das Glück, dass der Reporter der Lokalzeitung seine Bemerkung als Kompliment auffasste.
Meine Damen und Herren, dass selbst ein katholischer Bischof mit Staunen auf eine katholische Tradition wie den Blutritt blickt, sagt viel über die Vielfalt unseres Landes. Diese Vielfalt ist ein roter Faden unserer Geschichte. Eine Geschichte, in der kleinere Staaten miteinander konkurrierten, wer die stärkste Anziehungskraft auf Künstler, Wissenschaftler und Handelstreibende ausübt. Dieser Vielfalt verdanken wir, dass unser Land heute so viele Zentren der Kultur, der Wirtschaft und der Forschung hat. Diese Vielfalt ist Grund für unsere Innovationskraft. Sie ist Voraussetzung unserer Stärke.
Unser Föderalismus, mit starken Ländern, mit starken regionalen Identitäten, ist ein einzigartiges Erbe. Wenn wir also heute fragen, was eigentlich spezifisch deutsch ist: dann ist es genau dieses Verständnis von Vielfalt. Dieses Verständnis von Vielfalt – als roter Faden unserer Geschichte – hilft uns, Veränderungen wie sie sich durch die Wiedervereinigung und Zuwanderung ergeben, mit positiver Grundhaltung zu begegnen. Davon bin ich fest überzeugt.
Dieses Verständnis von Vielfalt hilft uns auch, aktuelle Debatten in rationale Bahnen zu lenken, es hilft uns, unsere Umwelt differenziert zu betrachten. Auch deshalb sollten wir unsere Verfassung viel stärker in den Fokus des öffentlichen Gesprächs rücken – als Quell von Zusammenhalt in Vielfalt.
Theodor Heuss hat einmal den klugen Satz gesagt: „Mit Politik kann man keine Kultur machen; vielleicht kann man mit Kultur Politik machen.“ Dieser Satz lässt sich sinngemäß auch auf das Grundgesetz und seine Werte übertragen: Man kann sie nicht von oben verordnen! Verbindlich sind diese Werte für alle nur, wenn die Bürgerinnen und Bürger sich mit ihnen auseinandersetzen, sie leben und wo nötig auch durchsetzen und verteidigen.
Es kommt also auf Sie, auf uns an, meine Damen und Herren. Es kommt auf das gesellschaftliche Gespräch an. Das Gespräch über Grundwerte, und darüber, wie wir den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft stärken. Dafür braucht es geeignete Foren. Dazu habe ich die Gesprächsreihe des Landtags „Wertsachen – was uns zusammenhält“ ins Leben gerufen. An unterschiedlichen Orten im Land diskutieren wir mit den Bürgerinnen und Bürgern, was Normen unserer Verfassungen konkret mit unserem Alltag zu tun haben.
Dabei stelle ich fest: Es gibt ein großes Interesse am Austausch über unsere Grundwerte. Zu unseren Veranstaltungen kommen Bürgerinnen und Bürger, die man sonst nicht auf politischen Veranstaltungen sieht. Aus ihren Fragen lese ich eine große Lust an politischen Debatte heraus. Zum Teil sehr kontrovers, wie etwa bei unserer Veranstaltung zu Artikel 4 Grundgesetz, Religionsfreiheit. Am 17. Oktober sind wir in Singen. Dort werden wir über Artikel 11 unserer Landesverfassung (Bildungsgerechtigkeit) reden und inwieweit dieser Anspruch mit der Realität übereinstimmt. Ich weiß, Singen ist nicht der nächste Weg – aber Sie sind trotzdem ganz herzlich eingeladen. Mit einem anderen Thema der Gesprächsreihe werden wir sicher aber auch noch in Ihre Region kommen.
Meine Damen und Herren, passend zum heutigen Thema habe ich aber vor allem unsere Wertsachen-Veranstaltung zu Artikel 3, Grundgesetz im Kopf. Dieser Artikel verbietet pauschale Bevorzugung oder Benachteiligung aufgrund von Sprache, Religion oder Herkunft. Dazu hatten wir im letzten Jahr in Mannheim mehrere Podiumsteilnehmer mit Migrationshintergrund eingeladen. Mit dabei war auch die Schriftstellerin Jagoda Marinic. Sie hat dabei einen Punkt angesprochen, der maßgeblich darüber entscheidet, ob Menschen hier heimisch werden. Einen Punkt, der auch auf die Rolle zielt, die der Mehrheitsgesellschaft dabei zufällt.
Frau Marinic spricht dabei von Anerkennungskultur. Ihre Eltern kamen als Gastarbeiter in die Region Stuttgart. Ihr Vater arbeitete beim Daimler. Eine typische Geschichte für viele Einwanderer der 1. Generation. Auch mein Vater kam als Industriearbeiter in die Region Stuttgart und hat später uns, die Familie nachgeholt. Was sich daraus ergibt – und das sollten wir uns bewusst machen – ist folgendes:
Wir sind zu Recht stolz auf Spitzenprodukte „Made in Germany“. Aber die weltbesten Autos, die weltbesten Maschinen waren und sind sehr oft auch „made by“ Jugoslawen, Italienern, Griechen, Türken, usw. Sie alle haben den Erfolg Deutschlands als führende Industrienation Europas mit ermöglicht. Und nicht nur das: Sie haben den Alltag von uns allen bereichert – durch ihre Küche, ihre Musik, ihre Kultur.
Wenn diese Erkenntnis fester Bestandteil der gesamtdeutschen Erzählung wird, ist ein großer Schritt getan. Ein Schritt hin zu: Heimat in Vielfalt. Hier haben wir – unübersehbar – noch großen Nachholbedarf. Und auch auf diesem Feld finden sich dann eben doch bemerkenswerte Parallelen zu den auf den ersten Blick so unterschiedlichen Gruppen der Migranten und Menschen aus dem Osten Deutschlands, der ehemaligen DDR.
Bundespräsident Steinmeier hat auch dies in seiner Rede zum Tag der deutschen Einheit in Mainz angesprochen. Ich zitiere: „Die ostdeutschen Geschichten sind kein solch fester Bestandteil unseres "Wir" geworden wie die des Westens.“
Die Wende hat das Leben der Bürgerinnen und Bürgern im Osten radikal verändert. Außerhalb des Kreises der Betroffenen dürfte das Bewusstsein darüber aber kaum präsent sein. Dazu ein Beispiel.
Als eine, die Anfang der 90er Jahre Wirtschaftswissenschaften in Hohenheim studiert hat, fand ich das Wirken der Treuhand als Thema hochspannend. Die Privatisierung zuvor staatlicher Betriebe war in Deutschland ein einmaliger Prozess - mit massiven Auswirkungen auf Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Und doch kennt man außerhalb der neuen Länder von der Anstalt heute sicher nicht viel mehr als den Namen. Gesamtgesellschaftlich präsent ist dagegen häufig: die Erfahrung von Abwertung, von Vorurteilen. Umgangssprachlich formuliert: Die „Ossis“ als „arme Verwandtschaft“, als die von „drüben“, die weniger produktiv arbeiteten und teils politisch radikaler dachten.
Meine Damen und Herren, Sie kennen die Ossi-Witze, Sie kennen die Klischees. Was das aber mit Menschen macht, hat die Journalistin Anja Maier treffend auf den Punkt gebracht. Sie ist Jahrgang 1965, ein Kind des Sozialismus. Sie schreibt – in drastischen Worten.
Ich zitiere: „Je öfter die Politik uns Ostdeutschen zu erklären versucht, wie scheiße unser Leben früher war, desto gemütlicher richten wir es uns im muffelnden Gefühl der Abwertung ein.“
Das beschreibt treffend die Gefahr, wenn wir es als Gesellschaft versäumen, Vielfalt im kollektiven Gedächtnis zu verankern. Wenn die einen zu den anderen sprechen wie Zivilisierte zu Rückständigen, dann fühlen sich letztere nicht zugehörig. Dann fühlen sich diese Bürgerinnen und Bürger als Bürger zweiter Klasse. Dann suchen diese Menschen Heimat unter ihresgleichen. Dann schwindet Zusammenhalt. Das lehrt uns die Geschichte der Wiedervereinigung. Das lehrt uns – auch – die Geschichte vieler Migranten und Migrantinnen.
Meine Damen und Herren, zur Anerkennung, zum Gefühl, ein Teil des Ganzen zu sein, gehört ganz wesentlich auch Repräsentanz. Ob ich mich heimisch fühle, hängt auch davon ab, ob ich mich in den Menschen an der Spitze von Politik, Wirtschaft, Kultur wiedererkenne. Auch dabei machen Migranten und Ostdeutsche ähnliche Erfahrungen. Natürlich gibt es Vorzeigekarrieren: Wir haben eine ostdeutsche Bundeskanzlerin, mit Joachim Gauck gab es einen ostdeutschen Bundespräsidenten. Im Politbarometer der wichtigsten Politiker kommt Cem Özdemir regelmäßig auf die höchsten Zufriedenheitswerte. Fragt man bei unseren hessischen Nachbarn nach dem beliebtesten Landespolitiker, dann sagen sie Tarek al-Wazir.
Diese Erfolgsgeschichten sind wichtig. Zweifellos motivieren sie. Aber es reicht eben nicht, dass es einzelne nach oben geschafft haben. Wirklich entscheidend ist, ob man die Vielfalt der Gesellschaft auf allen Ebenen findet – ob alle Menschen unabhängig von ihrer Herkunft die gleichen Chancen zum Aufstieg haben.
Meine Damen und Herren, dazu ein anderes Beispiel. Die Parlamentsverwaltungen tauschen sich regelmäßig auf Konferenzen aus. Wenn man sich bei diesen Treffen anschaut, wer an der Spitze und auf der Arbeitsebene die ostdeutschen Landtage vertritt, dann bekommt der Ausspruch „das Volk von hier, die Elite von drüben“ ein Gesicht. Das hat Gründe: Baden-Württemberg war nach der Wende Partnerland von Sachsen und hatte damals viele junge Experten entsandt. Das war damals sicher auch richtig. Aber es zementiert bis heute die Verhältnisse. Und zwar in einer Weise, dass man als Ostdeutscher, als Ostdeutsche leicht den Eindruck bekommen kann, man habe mit der eigenen Herkunft weniger Chancen.
Die Universität Leipzig hat vor drei Jahren vorgerechnet, dass der Anteil Westdeutscher in Verwaltung, Justiz und Gewerkschaften im Osten bei 80 bis 95 Prozent liegt. An den Schaltstellen der Ministerien – den Abteilungsleitungen – besetzen Ostdeutsche gerade mal ein Viertel der Stellen. Den Autoren der Studie zufolge sind Ostdeutsche in Führungspositionen heute stärker in der Minderheit als Frauen! Und das will was heißen - bei dem enormen Nachholbedarf, den Politik in Sachen Frauenförderung immer noch hat. Es läuft also etwas kräftig schief.
Was es stattdessen braucht, wie man das Gefühl von Fremdbestimmung ersetzt durch Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Heimat, möchte ich anhand meiner Erfahrung schildern. Anfang der 90er haben mich die Anschläge auf Flüchtlingsheime und Wohnhäuser von Migranten in Ost und West erst erschüttert und dann politisiert. Das waren einschneidende Erlebnisse. Ich hatte das Glück, so aufzuwachsen, dass ich fast immer das Gefühl hatte, dazuzugehören – in der Schule, im Studium, in der Freizeit.
Die Bilder der brennenden Wohnhäuser von Migranten sagten aus: „Die wollen dich zur Fremden machen“, „Du bist in Gefahr“. Ich habe dann zunächst mein Freizeitverhalten verändert, bin abends nicht mehr weggegangen und habe mir ein Pfefferspray gekauft. Aber schon nach sehr kurzer Zeit habe ich mir gesagt: „Nein, das bist du nicht. Ich will keine Angst haben. Das ist meine Heimat, ich will die Werte, die mir selbst so viel ermöglicht haben, verteidigen. Das ist mein Land und ich überlasse es nicht den Rechtsextremen.
Für mich lag es dann nahe, einer Partei beizutreten, wenn ich mich engagieren will. Der Weg zu den Grünen war dabei nicht vorgezeichnet. Ich habe mir auch andere Parteien angeschaut. Ausschlaggebend war letztlich die einladende Selbstverständlichkeit, mit der mir die Grünen begegnet sind. Entscheidend ist eben auch, wie die Mehrheit sich einem zuwendet. Um bei meinem Beispiel zu bleiben – wie reagieren die Männer ohne Migrationshintergrund, wenn eine junge Deutsch-Kurdin das Spielfeld betritt: Sieht man sie als Fremdkörper, die eingeübte Rituale stören könnte? Oder wendet man sich ihr zu, interessiert sich für die andere Perspektive und sieht das als Chance, sich in der Gesellschaft breiter zu vernetzen?
Ich habe diese Zugewandtheit erlebt und daraus die Motivation gezogen, meinen weiteren Weg zu gehen. Meine Damen und Herren, Zugewandtheit, die unvoreingenommene Neugierde auf den Anderen, das zunächst noch Fremde – und zwar von jeweils beiden Seiten – ist Voraussetzung für einen starken Zusammenhalt. Diese Einsicht führt weg vom Weg der Spaltung. Wer jedoch Vielfalt bekämpft, wer das „Wir“ nur in Ablehnung der Anderen definiert, der erreicht das Gegenteil dessen, was er an Sicherheit verspricht.
Zusammenhalt entsteht nicht, wenn man ihn in abgekapselten, homogenen Gruppen sucht. Eine solche Gesellschaft zerfällt in auseinanderdriftende Milieus, die sich wechselseitig als Bedrohung empfinden. Dann gehen auch die gemeinsamen „Zeichen“, die kulturellen Codes verloren. Die einen fühlen sich in der Umgebung der Anderen fremd. Dann gibt es auch keine Gemeinsamkeiten mehr, an denen sich Neuankömmlinge aus- und aufrichten können. Das hier im Augenblick viel schief läuft, sehen wir am Verlauf von Debatten über Gewalttaten. Der Umgang mit dem Tod eines Deutsch-Kubaners in Chemnitz ist dafür nur ein Beispiel von vielen. Bei schrecklichen Verbrechen wie diesem dominiert der Täter die Diskussion – oder besser gesagt: seine Hautfarbe oder Herkunft.
Die anschließenden Auseinandersetzungen in den sozialen Medien arten schnell in Angriffe gegen Menschen aus, die mit dem Täter nichts weiter teilen als Hautfarbe oder Herkunft.
Meine Damen und Herren, ich bin überzeugt: je mehr Debatten Täter ins Rampenlicht stellen, je mehr Debatten ins Pauschale abdriften, umso schwerer fällt es uns allen, kühlen Kopf zu bewahren.
Um diese Spirale der Hysterie zu durchbrechen, braucht es Mut, auch und gerade von uns Politikerinnen und Politikern. Auch das möchte ich anhand eines Beispiels deutlich machen. Im Wendejahr 1989 hat eine furchtbare Tat meine Heimatstadt Stuttgart getroffen. Sollten Sie Fan des VfB Stuttgart sein, dann kennen Sie vermutlich die Gaisburger Brücke. Sie ist die Hauptzufahrt von der Bundesstraße zum Stadion. Auf dieser Brücke starben damals zwei Polizisten. Bei einer Routinekontrolle erstach ein Asylbewerber aus Afrika die zwei Polizisten mit einem Bajonett. So einen Gewaltausbruch kannten wir in Stuttgart bis dahin nicht. Auch deshalb hat das die Menschen so erschüttert. In dieser Situation sagte der damalige Oberbürgermeister Manfred Rommel:
„Es hätte auch ein Weißer sein können. Es hätte auch ein Schwabe sein können.“
Damit baute Manfred Rommel eine Brücke zwischen der Trauer und der Sorge vor der Stigmatisierung aller Asylbewerber oder gar aller Ausländer. Mit dieser Aussage ging Manfred Rommel ein hohes, politisches Risiko ein. Es gab viele, die seine Aussage nicht gut fanden. Manche hat sie gar empört. Seine klare Haltung hat aber dazu beigetragen, dass es in der Folge keine Ausländer-Debatte gab. Stattdessen gab es Gespräche darüber, wie man den Kolleginnen und Kollegen der Polizisten bei der Bewältigung dieser traumatischen Erfahrung unterstützen kann. Eine Diskussion, bei der die Opfer im Mittelpunkt standen, die Hilfe und die Nachsorge für Hinterbliebene und Betroffene. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Diese Geschichte ist kein Plädoyer dafür, dass wir im Umgang mit solchen Verbrechen Täter außen vorlassen. Wenn die Wissenschaft uns sagt, dass kulturelle und soziale Faktoren es wahrscheinlicher machen, dass jemand kriminell wird, dann müssen wir darüber natürlich offen reden. Aber eben auf Basis belastbarer Daten und politisch verantwortungsvoll: mit dem Ziel, kriminelle Karrieren zu verhindern.
Damit sind wir auch ganz schnell wieder beim Thema Grundwerte und wie wir sie leben. Vergangenes Jahr habe ich an einer Tagung der Konrad-Adenauer-Stiftung in Cadenabbia am Comersee teilgenommen. Anwesend waren Vertreter des Bundeskriminalamts, der Landespolizei, des Verfassungsschutzes und viele Kriminologen – also die komplette Szene der Sicherheitsapparate. Fazit dieser Tagung war: dass Frust, dass das Empfinden, nicht dazuzugehören, weniger Chancen zu haben, Kriminalität und Radikalisierung begünstigen. Clans und Extremisten nutzen solche Minderwertigkeitsgefühle gezielt für ihre Anwerbung. Umso wichtiger ist, dass wir Vielfalt als positives Grundelement unserer Gesellschaft zum Leitbild unseres Handelns machen – in Politik und Verwaltung.
Dazu gehören für mich auch Wertedebatten. Sie sind auch wichtiger Bestandteil von Prävention. Ich bin sicher: Das passt auch als Antwort auf die Radikalisierung, die wir derzeit in Chemnitz und anderen Orten sehen. Wer dort bewusst Öl ins Feuer gießt, spricht gezielt Minderwertigkeitsgefühle an. Und bietet als Reiz die Aufwertung in einer Kampfgemeinschaft „Wir gegen die“: Wir gegen die Ausländer. Wir gegen die Politik da oben. Wir gegen das System.
Meine Damen und Herren, jede und jeder von uns ist aufgerufen, hier Haltung zu zeigen.
Indem wir uns der Abwärtsspirale des „Wir gegen die“, der Bildung abgekapselter Milieus, mit dem Bild einer Heimat in Vielfalt, entgegenstellen. Indem wir uns den Anderen zuwenden, ihnen zuhören und ihnen damit das Gefühl von Zugehörigkeit vermitteln. Das ist mit Hilfe der sozialen Medien heute praktisch einfacher denn je. Es wird viel geschimpft auf die sozialen Medien als Katalysator von Filterblasen. Aber aufgeschlossenen Nutzerinnen und Nutzern machen sie es andererseits leichter, andere Lebenswelten kennenzulernen. Sie zeigen anschaulich, was ich als gesamtgesellschaftliche Erzählung von Heimat in Vielfalt bezeichnet habe.
Vor kurzem machte etwa auf Twitter der Hashtag #metwo (nicht zu verwechseln mit #metoo) Furore. Migrantinnen und Migranten erzählen unter dem Hashtag #metwo von Erlebnissen der Diskriminierung – oft im schulischen und beruflichen Kontext. Das legt offen, in welchen Bereichen Grundwerte unserer Verfassung – in dem Fall keine Benachteiligung aufgrund der Herkunft – noch nicht so gelebt werden, wie es der Fall sein sollte.
Das bringt uns als Politik und Gesellschaft wichtige Impulse und Ansatzpunkte. Faszinierend fand ich an dieser Debatte, dass sich schnell ein zweiter Hashtag hinzugesellte. Nämlich der Hashtag #mygermandream, mein deutscher Traum. Wenn Sie diesen Hashtag auf Twitter eingeben, finden Sie Geschichten der Dankbarkeit für die Werte und die Möglichkeiten, die unser Land bietet. Sie finden Geschichten der Zugewandtheit, Geschichten von gelebter Vielfalt. Problemanalyse und Lösungsansatz haben sich im Netz per Schwarmintelligenz innerhalb weniger Tage der Diskussion Verbunden – und sind sichtbar geworden, auch für Menschen ohne entsprechenden Hintergrund, ohne entsprechende Erfahrungen.
Etwas Ähnliches ist nach den Ereignissen von Chemnitz passiert. Unter dem Hashtag #derandereOsten twittern Nutzer über ihre Erfahrungen, ihre Prägungen, wie auch über die positiven Seiten des Ostens. Sie zeigen an vielen Beispielen soziales und gesellschaftliches Engagement. Gemeinsam erheben sie den Anspruch, die Erzählung des Ostens nicht den Rechtsextremen zu überlassen. Das finde ich besonders schön. Das finde ich besonders wichtig. Dieser Hashtag, #derandereOsten zeigt: Es gibt viele Menschen, die sich rechtsextremen Kundgebungen entgegenstellen. Es gibt viele Menschen, die Solidaritätskonzerte im Großen und offene Jugendtreffs im Kleinen organisieren, Menschen, die zeigen, dass die Parole der Demokratinnen und Demokraten – „wir sind mehr“ – auch im Osten zutrifft. Dieser andere Osten ist der wahre Osten. Und Hashtags wie dieser machen das sichtbar.
Liebe Gäste, schauen Sie rein ins Netz. Nehmen Sie bitte diese Perspektiven auf. Bauen Sie mit an einem kollektiven Gedächtnis, das die Vielfalt unserer Gesellschaft widerspiegelt. Und beteiligen Sie sich am gesellschaftlichen Gespräch über die Grundwerte, die unser Land zusammenhalten. Reden Sie darüber mit den Menschen, die gerade vor, hinter oder neben Ihnen sitzen – egal ob sie aus Brackenheim, Bautzen oder wie ich aus Bingöl stammen.
Und scheuen Sie sich dabei nicht vor kontroversen Diskussionen. Grundwerte sind nicht selbstverständlich. Wir müssen immer wieder aufs Neue um sie streiten. Je vielfältiger unsere Gesellschaft ist, umso anstrengender ist das. Integration von Neuem heißt vor allem, dass der Anteil der Menschen wächst, die am gesellschaftlichen Gespräch teilhaben können und wollen. Je besser wir es schaffen, die Diskussionen um unsere Werte und um unser Zusammenleben auf Augenhöhe zu führen – als gleichrangige Staatsbürgerinnen und Staatsbürger unabhängig von der Herkunft – umso eher schaffen wir eine Gemeinschaft, die auch Konflikte aushält. Eine Gemeinschaft, die in der Lage ist, Spielregeln auszuhandeln, die für alle verbindlich sind, weil sich alle als Teil des Ganzen als Teil einer gemeinsamen Heimat verstehen.
Einer Heimat in Vielfalt.
Stellen wir uns also dieser Anstrengung.
Und seien wir dabei in Gedanken bei Theodor Heuss und einem seiner Denkanstöße.
„Man muss das als gegeben hinnehmen: Demokratie ist nie bequem.”
Herzlichen Dank.